Es hängt jetzt viel von unserem Verhalten ab
Die Anzahl an positiv auf COVID-19 getesteter Fälle wuchs in China zunächst exponentiell, verlangsamte sich aber anschließend. Dr. Dirk Brockmann, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und Projektgruppenleiter am Robert-Koch-Institut (RKI), hat mit seinem Postdoc Benjamin F. Maier ein Ausbreitungsmodell entwickelt, das die Wirkung von Social Distancing und anderen Maßnahmen berücksichtigt, um diesen Effekt zu erklären. Die Ergebnisse ihrer Studie sind nun in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift Science erschienen.
„Ein exponentielles Wachstum der Fallzahlen ist generell zu erwarten, wenn sich eine Infektionskrankheit ungehindert ausbreitet,“ erklärt Brockmann. „Ein Infizierter steckt z.B. drei Menschen an, diese drei Menschen infizieren wiederum je drei Menschen – und nach kürzester Zeit gibt es sehr viele Erkrankte.“ Laut Brockmann konnte dieses Wachstum in China jedoch später nicht mehr beobachtet werden. „Seit Ende Januar wuchsen die Fallzahlen kontinuierlich langsamer, um dann abzuflachen.“
Weniger Kontakte gleich Abnahme der Reproduktionszahl
Als Ursache dieses Effekts sehen die theoretischen Physiker individuelle Verhaltensänderungen gemäß Social Distancing oder staatliche Maßnahmen wie Contact-Tracing und Ausgangssperren. Diese führen dazu, dass über die Zeit immer weniger Kontakte zwischen Infizierten und Nicht-Infizierten bestehen, was zu einer zeitlichen Abnahme der sogenannten Reproduktionszahl führt. „Wenn ein Mensch im Schnitt drei weitere infiziert, diese danach aber nur noch je zwei Menschen und diese dann nur noch je einen, dann wächst der Ausbruch langsamer als exponentiell, wir nennen das sub-exponentiell“, erklärt Brockmanns Mitarbeiter Maier.
Eine unerwartete Intervention auf der Bundespressekonferenz am Donnerstag, 9. April: Prof. Dr. med. Mazda Adli, gab Tipps für eine Quarantäne, die so stressfrei wie möglich abläuft. Was machen, wenn die Laune in der Familie kippt, oder man sich alleine fühlt? Wichtigste Botschaft: Jetzt traurig zu sein oder sich ab und schlecht zu fühlen, ist völlig normal. Man muss nur lernen, das zu akzeptieren und den Stress nicht chronisch werden zu lassen.
In ihrem Modell nehmen die Forscher an, dass über die Zeit immer mehr Nicht-Infizierte von dem Ausbreitungsprozess abgeschirmt werden. „So erreicht die Zahl an Neuinfektionen pro Tag bald ein Maximum, um dann wieder abzusinken“, sagt Brockmann. Inzwischen seien ähnliche Effekte in anderen Ländern zu beobachten, z. B. in Italien, Spanien oder Deutschland.
Noch keine Entwarnung
Entwarnung geben die Forscher noch nicht: „Während wir in Italien und Spanien eine leichte Abnahme der Neuinfektionen sehen, setzt dieses Verhalten in Deutschland noch nicht ein.“ So befänden wir uns momentan an einem kritischen Punkt: Sollte die Anzahl von Kontakten weiter sinken, kann auch der Ausbruch eingedämmt werden. Passiert das jedoch nicht, würden die Gesamtfallzahlen weiter steigen. „Es hängt jetzt wirklich viel von unserem eigenen Verhalten ab“, so Maier.
Originalpublikation: Benjamin F. Maier und D. Brockmann: „Effective containment explains subexponential growth in recent confirmed COVID-19 cases in China“. Science, 8 April (2020).
Textquelle: Hans-Christoph Keller, Humboldt-Universität zu Berlin
Bildquelle 1: Mann mit Mundschutzmaske, Foto: Marco Verch, flickr.com / Lizenz: Creative Commons 2.0
Bildquelle 2: Blick auf das Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin, Foto: Heike Zappe, HUB / Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE
externe Videoquelle: euronews, youtube.com vom 9.4.2020
Der Komplexitätsforscher Dirk Brockmann ist Professor für Epidemiologische Modellierung von Infektionskrankheiten am Institut für Biologie der HU. Er ist außerdem als Projektgruppenleiter am RKI tätig. Benjamin F. Maier schloss 2019 seine Promotion zum Thema „Ausbreitungsprozesse in menschlichen Systemen“ am Institut für Physik der HU Berlin ab. Er arbeitet seit Anfang des Jahres als Postdoc in Brockmanns Projektgruppe am RKI.