Einblicke in die Funkti­ons­weise der Leber

Eine diagnos­tische Substanz breitet sich im Netzwerk der winzigen Gallen­ka­nälchen einer Maus symme­trisch in alle Richtungen aus. Die unter­schied­lichen Farbringe sollen die Ausbreitung im Zeitverlauf verdeut­lichen. In Rot sieht man die größeren Gallen­gänge. Bild: Vartak/IfADo

Einblicke in die Funkti­ons­weise der Leber

Rund fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden an Leber­er­kran­kungen. Noch verstehen wir viele Grund­funk­tionen der Leber nicht ausrei­chend, um Erkran­kungen bestmöglich zu behandeln. Ein Team am Leibniz-Institut für Arbeits­for­schung an der TU Dortmund (IfADo) konnte jetzt zeigen, dass der Transport der in der Leber gebil­deten, giftigen Galle grund­legend anders erfolgt, als es die Lehrmeinung bisher vertritt: Nach der Studie fließt die Galle nicht in den Gallen­ka­nälchen der Leber. Vielmehr steht die Flüssigkeit in diesen Kanälchen und die Gallen­be­stand­teile breiten sich dort per Diffusion aus.

Im Alltag nehmen wir durch Nahrung, Medika­mente oder Chemi­kalien bei der Arbeit ständig Fremd­stoffe auf. Die Leber entfernt diese giftigen Stoffe aus dem Blut und wandelt sie zu weniger schäd­lichen Varianten um. Anschließend scheiden Leber­zellen die Stoffe über die Galle in ein »Kanal­system« aus: Unzählige Gallen­ka­nälchen enden in größeren Gallen­gängen, die sich zu Röhren verei­nigen und in den Darm münden. Dorthin führen die Gallenwege auch die für die Fettver­dauung wichtigen Gallen­salze. Ist das Kanal­system jedoch undicht, gelangt giftige Galle ins Gewebe. Das kann zu schweren Entzün­dungen führen und krank machen. Für die Therapie von Leber­er­kran­kungen ist es daher wichtig zu verstehen, wie die Galle trans­por­tiert wird.

Ein inter­na­tio­nales Forschungsteam um IfADo-Experte Dr. Nachiket Vartak liefert nun im Fachma­gazin »Hepatology« neue Daten. Sie haben das Potenzial, die bishe­rigen wissen­schaft­lichen Annahmen zu den Trans­port­grund­lagen der Galle zu verändern. Mithilfe neuer bildge­bender und signal­ver­ar­bei­tender Techniken konnten sie im Tierversuch zeigen, dass Moleküle der Galle wie auszu­schei­dende Fremd­stoffe oder Gallen­salze von den Kanälchen zu den größeren »Abfluss­röhren« diffun­dieren – wie ein Tropfen Tinte im Wasserglas. Erst in diesen größeren Gängen wird Wasser zugeleitet und ab hier entsteht ein Fluss.

Eine überra­schende Erkenntnis: Denn seit Ende der 1950er Jahre steht in allen medizi­ni­schen Lehrbü­chern, dass die Galle schon in den Kanälchen fließt. Demnach würden die Gallen­salze osmotisch Wasser von den Leber­zellen in die Gallen­ka­nälchen ziehen, die nur in Richtung der Gallen­röhren offen sind. So entstehe ein Fluss.

Einblicke in kleinste biolo­gische Strukturen

Direkt gemessen wurde dieser Fluss jedoch noch nie. Das liegt am winzigen Durch­messer der Gallen­ka­nälchen, der 100 Mal kleiner ist als ein mensch­liches Haar. Mit herkömm­lichen Methoden können die Abläufe in den Kanälchen nicht unter­sucht werden kann. Der IfADo-Gruppe ist es nun mithilfe von komplexen Mikro­sko­pie­me­thoden und mathe­ma­ti­schen Berech­nungen gelungen, Fluores­zenz­si­gnale für sehr kleine Gewebe­re­gionen in raschen Bilder­serien zu erfassen und zu analy­sieren. So konnten die Forschenden genau bestimmen, wie sich Moleküle in den Gallen­ka­nälchen bewegen. Es zeigte sich, dass es dort überhaupt keinen messbaren Fluss gibt – ein Wider­spruch zur bislang gängigen Annahme.

Das Ergebnis haben sie daher mit einer unabhän­gigen zweiten Methode bestätigt: Mithilfe der Intra­vi­tal­mi­kro­skopie konnten sie in die intakte Leber hinein filmen und ebenfalls beobachten, wie eine diagnos­tische Substanz per Diffusion durch die Gallen­ka­nälchen der Leber trans­por­tiert wird. Diese Substanz wird erst dann in bestimmten Gewebe­re­gionen sichtbar, wenn sie lokal mit energie­reichem Licht angestrahlt wird.

»Man kann sich die Gallen­ka­nälchen wie einen Teich vorstellen, der mit einem Fluss verbunden ist. Das Wasser im Teich steht, während es im Fluss fließt. Kippt man Tinte in den Teich, gelangt diese letztlich in den Fluss. Aber sie fließt nicht dorthin, sondern diffun­diert«, erklärt Nachiket Vartak, Leiter der IfADo-Forschungs­gruppe »Funktio­nelles Imaging«.

Kontro­verse über beste Behandlungsstrategie

Der scheinbar feine Unter­schied zwischen Fluss oder Diffusion ist relevant, wenn es darum geht, die beste Thera­pie­stra­tegie für Personen mit Leber­er­kran­kungen wie der Fettle­ber­ent­zündung zu wählen. Bisher geht man davon aus, dass es einen Fluss in den Gallen­ka­nälen geben muss, der bei krank­heits­be­dingten Veren­gungen der Kanäle gestoppt wird. Dadurch baue sich ein Druck auf, der das Leber­gewebe schädigen würde. Theore­tisch sollten daher Medika­mente, die den vermu­teten Fluss senken, auch den vermeintlich schädi­genden Druck reduzieren. Auf Basis der aktuellen Erkennt­nisse muss dieses Konzept jedoch hinter­fragt werden. Denn es ziele nicht auf die tatsäch­liche Ursache einer Fettle­ber­ent­zündung ab, so Nachiket Vartak: »Wichtiger wäre es dagegen, sich auf die moleku­laren Mecha­nismen zu konzen­trieren, die dazu führen, dass Gallenwege undicht werden und so Krank­heiten entstehen.«

»Unsere neuen Erkennt­nisse erfordern eine wissen­schaft­liche Debatte in der Leber­for­schung, die zu einer Anpassung der Lehrmeinung an die neue Beobachtung führen wird. Es bleibt zu hoffen, dass so langfristig Fortschritte bei der Therapie von Leber­er­kran­kungen erzielt werden«, sagt IfADo-Direktor Prof. Dr. Jan Hengstler.

Origi­nal­pu­bli­kation:

Vartak, N. et al.: Intra­vital dynamic and corre­lative imaging reveals diffusion-dominated canali­cular and flow-augmented ductular bile flux. Hepatology 2020. doi: 10.1002/hep.31422

Textquelle: Eva Mühle, Leibniz-Institut für Arbeits­for­schung an der TU Dortmund

Bildquelle: Eine diagnos­tische Substanz breitet sich im Netzwerk der winzigen Gallen­ka­nälchen einer Maus symme­trisch in alle Richtungen aus. Die unter­schied­lichen Farbringe sollen die Ausbreitung im Zeitverlauf verdeut­lichen. In Rot sieht man die größeren Gallen­gänge. Bild: Vartak/IfADo