Dogma­tische Menschen neigen zu Fehlurteilen

Dogma­tismus gibt es in allen Bereichen des gesell­schaft­lichen Lebens. Es bezeichnet die unkri­tische Übernahme von und das unreflek­tierte Beharren auf Dogmen. Dikta­turen bedienen sich der Dogmen zur Festigung ihrer ideolo­gi­schen Basis und züchten daraus Gewalt. Feuerbach: »Das Dogma ist nicht anderes als ein ausdrück­liches Verbot, zu denken.« Foto: Charles Russell / National Archives and Records Adminis­tration / NAID 558778. Lizenz: Gemeinfrei

Dogma­tische Menschen neigen zu Fehlurteilen

Eine aktuelle Studie von Neuro­wis­sen­schaftlern am Max-Planck-Institut für biolo­gische Kyber­netik in Tübingen und am University College London (UCL) zeigt, dass sich Menschen mit dogma­ti­schen Ansichten seltener infor­mieren als der Durch­schnitt, selbst wenn es um die einfachsten Entschei­dungen geht.

Dogma­tische Menschen sind oft der Ansicht, dass ihre Weltan­schauung der absoluten Wahrheit entspricht. In Folge weigern sie sich häufig, ihre Meinung zu ändern. Zum Beispiel im Zusam­menhang politi­scher Frage­stel­lungen. Ihr Verhalten polari­siert dadurch manchmal erheblich. Die kogni­tiven Grund­lagen dieser Engstir­nigkeit sind jedoch wissen­schaftlich noch immer wenig verstanden.

»Dogma­tische Menschen machen oft den Eindruck, als wären sie weniger an Infor­ma­tionen inter­es­siert, die ihre Meinung ändern könnten. Als Neuro­wis­sen­schaftler haben wir uns gefragt: Rührt das nur daher, dass ihnen der eigene Stand­punkt so besonders wichtig ist und richtig erscheint? Oder spielen mögli­cher­weise einfa­chere kognitive Prozesse eine Rolle, die vollkommen meinungs­un­ab­hängig sind?«, erklärt Lion Schulz, Neuro­wis­sen­schaftler in der Abteilung für Compu­ta­tional Neuro­science am Max-Planck-Institut für biolo­gische Kyber­netik und Erstautor der Studie.

Muster und Prozesse des Dogmatismus

Um diese Frage­stel­lungen näher zu unter­suchen, baten Schulz und seine Kollegen über 700 Probanden eine einfache Entschei­dungs­aufgabe zu erfüllen, bei der die eigene Meinung keine Rolle spielte. Die Teilnehmer sahen auf ihrem Monitor zwei Kästchen mit flimmernden Punkten und mussten entscheiden, welches der Kästchen mehr Punkte enthielt. Nach diesem ersten Schritt folgte der entschei­dende Teil des Experi­mentes. Bevor die Versuchs­teil­neh­menden ein abschlie­ßendes Urteil abgaben, für dessen Genau­igkeit sie honoriert wurden, konnten sie zwischen zwei Möglich­keiten wählen. Entweder konnten sie sich dafür entscheiden, dass ihnen die bishe­rigen Infor­ma­tionen ausreichten, um eine abschlie­ßende Entscheidung zu treffen. Oder sie konnten auswählen, die Kästchen noch einmal zu sehen, nun aber mit einer besseren optischen Auflösung. Dafür mussten sie zwar einen kleinen Teil ihrer Honorierung einbüßen, konnten aber die abschlie­ßende Entscheidung deutlich präziser treffen.

»So ein Versuchs­aufbau steht sinnbildlich für viele Situa­tionen aus unserem Alltag. Zum Beispiel, wenn wir ein Gerücht hören, aber nicht sicher sind, ob es stimmt. Drücken wir dann direkt den »Teilen«-Knopf, oder schauen wir vielleicht nochmal bei einer verläss­lichen Quelle nach?«, erklärt Schulz. In den Neuro­wis­sen­schaften werden bewusst solch einfache Versuchs­auf­bauten genutzt um kogni­tiven Prozessen auf die Spur zu kommen. »Dieses Experiment minimiert Störva­riablen und lässt uns so präzise die Denkpro­zesse identi­fi­zieren, die zu dogma­ti­schen Überzeu­gungen beitragen«, erklärt Mitautor Max Rollwage vom University College London.

Der Aufgabe folgte ein umfas­sender Satz von Frage­bögen, mit denen die Forscher die politische Orien­tierung und die Inten­sität des indivi­du­ellen Dogma­tismus der Teilneh­menden messen konnten.

Die Daten der Forscher offen­barten ein beson­deres Verhal­tens­muster dogma­ti­scher Personen: Nachdem sie die ersten Kästchen gesehen hatten, lagen sie nicht häufiger daneben als ihre weniger dogma­ti­schen Mitmen­schen. Dogma­tische Menschen zeigten sich im Durch­schnitt auch nicht sicherer in ihrer zuerst getrof­fenen Entscheidung. Schulz und seine Kollegen stellten jedoch fest, dass die starr­sin­ni­geren Probanden weniger Interesse an den hilfreichen Zusatz­in­for­ma­tionen hatten. Sie infor­mierten sich weniger.

Die Unter­schiede zwischen mehr und weniger zum Dogma­tismus neigenden Teilnehmern waren besonders groß, wenn die Probanden sich unsicher waren. Steve Fleming, Londoner Forscher und leitender Mitautor der Studie, erklärt das so: »Frühere Arbeiten haben gezeigt, dass es einen engen Zusam­menhang zwischen unserem akuten Selbst­ver­trauen und der Entscheidung gibt, ob wir uns infor­mieren. Dieser Zusam­menhang war bei dogma­ti­scheren Personen schwächer ausgeprägt.«

Die Daten der Forscher zeigten außerdem, dass das niedrigere Infor­ma­ti­ons­in­teresse den dogma­ti­scheren Probanden schadete: Ihre endgül­tigen Urteile waren ungenauer und sie erhielten dadurch weniger Honorar als andere Versuchs­teil­nehmer. Fleming schluss­folgert: »Es ist bemer­kenswert, dass wir in diesem einfachen Spiel Verbin­dungen zwischen Dogma­tismus und Infor­ma­ti­ons­suche feststellen konnten. Das sagt uns, dass Dogma­tismus in der realen Welt nicht nur ein Merkmal bestimmter Gruppen oder Meinungen ist, sondern mögli­cher­weise von grund­le­gen­deren kogni­tiven Prozessen angetrieben wird.«

Infor­ma­tionen immer prüfen

Wir leben in einer Welt voller unklarer oder falscher Infor­ma­tionen, die schnell geteilt, übernommen und für wahr gehalten werden. Die Studie unter­streicht, dass die bloße Verfüg­barkeit korri­gie­render Infor­ma­tionen nicht notwen­di­ger­weise bedeutet, dass wir diese auch nutzen.

»Dies ist in unserer heutigen Zeit besonders relevant. Noch nie hatten wir so viel Freiheit zu entscheiden, ob wir genug zu einem bestimmten Thema gelesen haben – oder ob wir lieber doch nochmal eine vertrau­ens­würdige Quelle zu Rate ziehen sollten«, sagt Lion Schulz.

»Es ist wichtig zu betonen, dass die Unter­schiede zwischen mehr und weniger dogma­ti­schen Menschen durchaus fein waren. Auch können wir noch nicht exakt vorher­sagen, wie sich unsere Resultate verändern, wenn es um ‚echte‘ Infor­ma­tionen geht, wie zum Beispiel politische Nachrichten«, fügt Schulz hinzu. »Unsere Forschung kann dennoch als Denkanstoß dienen, ob wir uns nun für dogma­tisch halten oder nicht. Wenn wir unsicher sind, ist es vielleicht ratsam, uns noch einmal gut zu informieren.«

Die Forscher versuchen nun, die kogni­tiven Algorithmen hinter dem Entschei­dungs­ver­halten der Probanden weiter zu entschlüsseln. Ihr beson­deres Augenmerk liegt darauf, was Menschen dazu veran­lasst, sich bei Unsicherheit zu infor­mieren, und was sie davon abhält.

Origi­nal­pu­bli­kation:

Lion Schulz, Max Rollwage, Raymond J. Dolan, Stephen M. Fleming

Procee­dings of the National Academy of Sciences Nov 2020, 202009641; DOI: 10.1073/pnas.2009641117

Textquelle: Dr. Daniel Fleiter, Max-Planck-Institut für biolo­gische Kybernetik

Bildquelle: Dogma­tismus gibt es in allen Bereichen des gesell­schaft­lichen Lebens. Es bezeichnet die unkri­tische Übernahme von und das unreflek­tierte Beharren auf Dogmen. Dikta­turen bedienen sich der Dogmen zur Festigung ihrer ideolo­gi­schen Basis und züchten daraus Gewalt. Feuerbach: »Das Dogma ist nicht anderes als ein ausdrück­liches Verbot, zu denken.« Foto: Charles Russell / National Archives and Records Adminis­tration / NAID 558778. Lizenz: Gemeinfrei