Corona: Den geneti­schen Ursprüngen auf der Spur

Corona: Den geneti­schen Ursprüngen auf der Spur

Einer Gruppe inter­na­tio­naler Forschender aus der Genetik und Archäo­logie aus Kiel und Cambridge ist es durch Anwendung phylo­ge­ne­ti­scher Netzwerk­ana­lysen gelungen, den Ursprung und die Verbreitung des neuar­tigen Corona­virus (SARS-CoV‑2) nachzu­voll­ziehen, das die Lungen­krankheit COVID-19 verur­sacht. Es ist die erste große, von Exper­tinnen und Experten begut­achtete und damit quali­täts­ge­si­cherte Analyse der Entwicklung der vollstän­digen Erbinfor­ma­tionen des Virus in diesem weltweiten Ausbruch.
Dr. Michael Forster, Institut für Klinische Moleku­lar­bio­logie (IKMB) des UKSH, Campus Kiel, Foto: Christian Urban, Uni Kiel

Beteiligt waren Wissen­schaft­le­rinnen und Wissen­schaftler um Dr. Michael Forster, Institut für Klinische Moleku­lar­bio­logie (IKMB) des Univer­si­täts­kli­nikums Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, und der Christian-Albrechts-Univer­sität zu Kiel (CAU), ebenso wie das Team von Dr. Peter Forster vom McDonald Institute for Archaeo­lo­gical Research an der Univer­sität Cambridge.

Ihre am Mittwoch, 8. April 2020, in der renom­mierten Fachzeit­schrift PNAS veröf­fent­lichten Ergeb­nisse zeigen, dass sich in Europa und Amerika andere Virus-Typen verbreiten als in China.

Bevor SARS-CoV‑2 im letzten Jahr einen Menschen infizierte, hatten sich bereits Vorfahren dieses Virus in tieri­schen Wirten entwi­ckelt. Nach heutigem Erkennt­nis­stand ist ein Fledermaus-Corona­virus dem mensch­lichen SARS-CoV‑2 am ähnlichsten. Dies geht aus dem Vergleich der Virus-Erbinfor­mation, dem sogenannten Virus­genom, hervor. Die Forschenden verglichen weiterhin in einer sogenannten phylo­ge­ne­ti­schen Netzwerk­analyse, d.h. in einer Unter­su­chung der geneti­schen Verwandt­schafts­ver­hält­nisse, die ersten 160 vollstän­digen Genome der mensch­lichen COVID-19-Viren, die zu Beginn des aktuellen Ausbruchs von Ende 2019 bis März 2020 von den weltweiten Forschungs­la­boren gesammelt wurden. Hierbei fanden die Forschenden drei zentrale Varianten, die sie als A, B und C bezeichnet haben. Typ A ist dem eng verwandten Fledermaus-Corona­virus am ähnlichsten und somit wahrscheinlich der Urahn aller mensch­lichen Corona­viren. Dies haben weitere Vergleiche mit zwei entfernter verwandten Pangolin-Corona­virus-Stämmen bestätigt. Inter­es­san­ter­weise ist der in Wuhan vorherr­schende Typ B nicht der ursprüng­liche mensch­liche Virustyp. Aber auch in Wuhan kommt Typ A, also das ursprüng­liche mensch­liche Virus­genom, durchaus vor.

Über Phylo­ge­ne­tische Netzwerkmethoden:

Phylo­ge­ne­tische Netzwerk­me­thoden dienen der Unter­su­chung der Entwicklung und Verbreitung einer Spezies (oder Art) eines Lebewesens oder Virus (die nicht zu Lebewesen gezählt werden). Die ersten dieser Methoden wurden 1979 in Neuseeland etabliert. In den 1990er Jahren wurden sie von deutschen Forschenden der Mathe­matik unabhängig weiter­ent­wi­ckelt, vor allem von Prof. Hans-Jürgen Bandelt und Dr. Arne Röhl in Hamburg in Zusam­men­arbeit mit dem Kieler Wissen­schaftler Dr. Peter Forster, damals am Heinrich-Pette-Institut für Virologie in Hamburg. 1998 entdeckte der renom­mierte Archäo­logie-Professor Colin Renfrew (Cambridge) die Vorteile der Analy­se­me­thode und gründete 1999 mit Dr. Peter Forster die weltweit erste archäo­ge­ne­tische Forschungs­gruppe in einem archäo­lo­gi­schen Institut. Forster war Gründungs­mit­glied der Jungen Akademie und wurde 2012 zum Mitglied der Natio­nalen Akademie der Wissen­schaften (Leopoldina) berufen. Er koope­riert eng mit dem Kieler Institut für Klinische Moleku­lar­bio­logie. Im Kieler Medical Life Sciences Studi­engang gehört die Netzwerk­me­thode daher zum Erstse­mester-Lehrinhalt von Prof. Dr. Almut Nebel.

In dieser ersten Phase des Ausbruchs waren die A- und C‑Typen in signi­fi­kanten Anteilen außerhalb Ostasiens zu finden – bei Betrof­fenen in Europa, Australien und Amerika. Im Gegensatz dazu ist der B‑Typ der häufigste Typ in Ostasien. Der C‑Typ ist unter anderem früh in Singapur dokumen­tiert worden und ist auch unter den ersten europäi­schen Infek­ti­ons­fällen häufig vertreten.

Die Forschenden verwen­deten eine sogenannte phylo­ge­ne­tische Netzwerk­analyse. Diese Methode war ursprünglich in der archäo­lo­gi­schen Forschung zur Rückver­folgung der Vorge­schichte der mensch­lichen DNA und zur Rekon­struktion prähis­to­ri­scher Sprachen entwi­ckelt worden. Im Gegensatz zu konven­tio­nellen Stamm­baum­me­thoden ermög­licht es dieser Ansatz, hunderte mögliche Stamm­bäume gleich­zeitig in einer übersicht­lichen Darstellung anzuzeigen. Dies ist ein wesent­licher Vorteil, wenn der wahre Stammbaum unbekannt ist.

Die Anwendung dieser Methode im Fall des Corona­virus bedeutet, dass die Infek­ti­onswege für dokumen­tierte COVID-19-Fälle genau nachge­zeichnet werden können: So wurde beispiels­weise zunächst angenommen, dass der erste nordita­lie­nische Infek­ti­onsfall („Patient Eins“) von einer bestimmten Wuhan-Kontakt­person aus seinem Bekann­ten­kreis infiziert worden war. Doch als diese Kontakt­person getestet wurde, stellte sich heraus, dass sie das Virus nicht hatte. Die Suche nach dem italie­ni­schen „Patienten Null“ endete somit in einer Sackgasse und eine wirksame Quarantäne poten­ziell infizierter Personen war unmöglich. Seitdem hat sich die Krankheit unkon­trol­liert in Italien ausge­breitet. Das phylo­ge­ne­tische Netzwerk weist auf mindestens zwei unabhängige frühe Infek­ti­onswege in Italien hin, von denen einer mit dem ersten bekannten Fall in Deutschland und der andere mit dem Ausbruch im sogenannten „Singapur-Zweig“ in Verbindung steht. Die phylo­ge­ne­tische Rückver­folgung könnte daher künftig dabei helfen, COVID-19-Infek­ti­ons­quellen ungeklärter Herkunft zu identi­fi­zieren, die dann zur Eindämmung künftiger Ausbrüche der Krankheit unter Quarantäne gestellt werden können.

„Unsere Ergeb­nisse unter­streichen die Notwen­digkeit der genomi­schen Sequen­zierung und der Anwendung der Methode der phylo­ge­ne­ti­schen Netzwerk­analyse“, sagt IKMB-Wissen­schaftler Dr. Michael Forster, der die Studie in Zusam­men­arbeit mit dem von der Deutschen Forschungs­ge­mein­schaft (DFG) geför­derten deutsch­land­weiten Gense­quen­zie­rungs-Zentrum „Compe­tence Centre for Genomic Analysis“ (CCGA) Kiel an der CAU durch­führte. „Wir sind überrascht, dass für Italien, einem der am frühesten und stärksten betrof­fenen EU-Länder, trotz der hervor­ra­genden Forschenden bisher nur eine Handvoll italie­ni­scher Fälle in der globalen COVID-19-Fallda­tenbank GISAID gemeldet wurden“, fügt Prof. Andre Franke hinzu.

Origi­nal­pu­bli­kation: Peter Forster, Lucy Forster, Colin Renfrew, Michael Forster (2020):
Phylo­ge­netic network analysis of SARS-CoV‑2 genomes. Procee­dings of the National Academy of Sciences First published 08.04.2020 DOI: https://doi.org/10.1073/pnas.2004999117

Textquelle: Oliver Grieve, Univer­si­täts­kli­nikum Schleswig-Holstein

Bildquellen: Verbrei­tungs­zweige der verschie­denen SARS-CoV-2-Varianten, Foto: Michael Forster, Uni Kiel / Dr. Michael Forster, Institut für Klinische Moleku­lar­bio­logie (IKMB) des UKSH, Campus Kiel, Foto: Christian Urban, Uni Kiel