Bessere Chancen auch für sehr kleine Frühchen
Jedes Jahr kommen in Deutschland knapp 8.000 Babys zu früh zur Welt. Für ihre besorgten Eltern gibt es zwei gute Nachrichten. Die erste lautet: Frühchen haben heute immer bessere Chancen zu überleben. Und die zweite: Auch ihr Risiko, durch die Frühgeburt eine Behinderung zu erleiden, ist dank der Fortschritte der hochspezialisierten Neugeborenen-Intensivmedizin deutlich geringer geworden, vermeldet die Stiftung Kindergesundheit erfreut in einer aktuellen Stellungnahme.
von Giulia Roggenkamp, Stiftung Kindergesundheit
Betroffene Eltern wissen es aus bitterer Erfahrung: Nach einer Frühgeburt wird alles ganz anders als man sich das vorher ausgemalt hat. Der Bauch war noch gar nicht richtig da und dann ist er schon wieder weg. Das Baby ist nicht mehr im Bauch, aber auch noch nicht zu Hause. Es liegt in einem Brutkasten, umsponnen von Drähten und Schläuchen, oft kaum größer als eine Hand, die Haut dünn und durchscheinend wie Seidenpapier. Das Gesichtchen mit dem ernsten, greisenhaften Ausdruck passt so gar nicht in das niedliche Babyschema, das man im Kopf hatte.
Wird dieses Kind überleben? Die Epidemiologie liefert geradezu überwältigend positive Daten, berichtete Professor Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin beim letztjährigen Kongress der Kinderärzte in München: Die Sterblichkeit der Kinder, die mit einem Gewicht über 1.000 Gramm geboren werden, hat sich in den letzten Jahren von früher 10 Prozent auf 3 bis 4 Prozent reduziert.
Die Eltern befürchten vor allem, dass die Unreife bei der Geburt bei ihrem Kind lebenslange Folgen hinterlässt. Doch es gibt auch dazu Positives zu vermelden, sagt die Stiftung Kindergesundheit: Aus aktuellen Studien geht hervor, dass der Anstieg der Überlebensraten sehr unreifer Frühgeborener nicht – wie oft angenommen – mit einer höheren Rate neurologischer Beeinträchtigungen einhergeht. Das bedeutet: Auch die Mehrzahl dieser winzigen und zerbrechlichen Geschöpfe wächst später zu gesunden jungen Menschen heran.
Rate spastischer Störungen seit Jahren rückläufig
Eine besonders gefürchtete Folge von Frühgeburten ist die Zerebralparese (CP), die gehirnbedingte spastische Bewegungsstörung. Die Zerebralparese ist eine motorische Behinderung, oft begleitet von Lernstörung, Sehstörung oder auch Epilepsie. 60 Prozent der Kinder mit Zerebralparese sind Frühgeborene, und je früher Kinder auf die Welt kommen, umso höher ist das Risiko, aufgrund einer Gehirnschädigung diese Behinderung zu entwickeln.
Bis vor kurzem wurde angenommen, dass sich die Rate der von CP betroffenen Kinder trotz Bemühungen der Neonatologen und Intensivmediziner nicht senken lässt. Das hat sich jedoch zum Positiven geändert, unterstrich Professor Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann in München: „Wir können mit europaweit erhobenen Daten zeigen, dass die CP-Rate bei Frühgeborenen seit 20 Jahren kontinuierlich sinkt. Die Auswertung zeigt, dass die Fortschritte in der Intensivmedizin und der Neonatologie sehr wohl dazu führen, dass die ‚Frühchen‘ nicht nur vermehrt überleben, sondern auch besser überleben“.
Problematisch kann es jedoch werden, wenn Frühgeborene weniger als 1.500 Gramm auf die Waage bringen, betont die Stiftung Kindergesundheit. Diese Hochrisiko-Frühgeborenen, die den schützenden Mutterleib meist schon vor der 32. Schwangerschaftswoche verlassen mussten, werden als „sehr kleine Frühgeborene“ bezeichnet. Etwa ein Prozent aller Babys wiegt bei der Geburt weniger als 1.500 Gramm. Der Anteil dieser winzigen Babys ist damit genauso hoch wie jener Kinder, die mit einem Herzfehler geboren werden, an Diabetes erkranken oder an Epilepsie leiden.
Das Gewicht bestimmt das Überleben
Das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen (WIdO) wertete die Daten aller AOK-versicherten Frühchen aus, die in den Jahren 2008 bis 2012 geboren wurden. Danach lebten 180 Tage nach ihrer Geburt noch 65 Prozent der Babys, die mit einem extrem niedrigen Gewicht von unter 750 Gramm geboren wurden. Bei den VLBW-Babys mit einem Geburtsgewicht von 750 bis 1500 Gramm lag die Überlebensrate schon bei 96 Prozent.
Ärztinnen und Ärzte der Universitätsklinik für Neonatologie der Berliner Charité haben aus internationalen Studien ein Mosaik der wichtigsten Fakten zusammengestellt über die Chancen und Risiken, die auf diese Kinder und ihre Eltern künftig zukommen. Die Berliner Mediziner verfügen reichlich über eigene Erfahrungen: In den Jahren zwischen 2003 bis 2012 wurden in ihren Kliniken 1.284 überlebende VLBW-Babys betreut. 1.041 der Kinder konnten im Alter von 24 Monaten untersucht werden.
Das aktuellste Ergebnis: Von den nachuntersuchten Frühgeborenen unter 1500 Gramm Geburtsgewicht des Entlassungsjahres 2012 zeigten bei ihrer Untersuchung vor ihrer Einschulung 71,1 Prozent eine normale Entwicklung. 15,7 Prozent liegen im Bereich einer Lernbehinderung und 8,4 Prozent im Bereich einer geistigen Behinderung (Charité: Klinik für Neonatologie – Jahresbericht 2018).
Die Berliner Neonatologen berichten: „Die Prävalenz (Anteil) der Zerebralparese bei ehemaligen Frühgeborenen unter 1.500 Gramm Geburtsgewicht hat in den letzten 30 Jahren von 100 pro 1.000 auf 40 pro 1.000 Lebendgeborene abgenommen. Sie liegt jedoch 15- bis 20-mal höher als bei reif geborenen Kindern, deren Prävalenz im Vergleich bei zwei bis drei pro 1.000 Lebendgeborenen liegt“.
Probleme beim Essen und auf der Toilette
VLBW-Kinder haben indes immer noch ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko, an einer schwerwiegenden Sehstörung zu erkranken. Sie schielen häufiger, sind öfter stark kurzsichtig und leiden öfter unter einer Minderung der Sehschärfe und unter Gesichtsfelddefiziten. Sehr häufig werden auch Störungen der taktilen oder vestibulären Wahrnehmung berichtet: VLBW-Kinder stolpern häufiger über die eigenen Füße oder schaukeln und balancieren ungern.
Die Eltern von sehr kleinen Frühgeborenen müssen sich auch auf Fütterungsschwierigkeiten einstellen. Die Kinder essen nur sehr langsam und nur kleine Portionen. Sie vermeiden Nahrungen mit unterschiedlicher Konsistenz oder essen nur, wenn sie abgelenkt werden.
Sehr kleine Frühchen werden erst spät sauber, obwohl dafür keine organischen Ursachen erkennbar sind. Sie haben anscheinend Probleme, die volle Blase zu spüren. Viele kleine Frühchen tragen noch mit vier bis fünf Jahren Tag und Nacht Windeln und viele werden noch bis fünf oder sechs Jahre nachts gewickelt.
Schwach im Rechnen und Lesen
Für den Schulerfolg sind bekanntlich gutes Hören und gutes Sehen entscheidend. Viele VLBW-Kinder zeigen jedoch im IQ-Test Schwächen im Bereich der Objekterkennung, in der Fähigkeit, komplexe Formen oder Muster zu erkennen und auch beim visuellen Gedächtnis. Deshalb fällt ein Teil der VLBW-Kinder nach der Einschulung durch Legasthenie, Dyskalkulie, langsames Arbeitstempo sowie Aufmerksamkeitsprobleme auf.
Doch auch diese Kinder entwickeln sich unterschiedlich. Eine Untersuchung von bayerischen VLBW-Kindern der Geburtsjahrgänge 1979 bis 1996 ergab: 27 Prozent dieser ehemaligen Winzlinge haben das Abitur geschafft, mit Mittlerer Reife schlossen 37 Prozent ab und mit Hauptschulabschluss 22 Prozent.
54 Prozent der ehemaligen VLBW-Kinder sind als Erwachsene Brillenträger, 18 Prozent nehmen regelmäßig Medikamente ein und knapp sieben Prozent haben deutliche Hörprobleme. Ihre Schwierigkeiten hängen möglicherweise mit den Behandlungsmethoden zusammen, unter denen Frühgeborene noch vor 30 Jahren ihre ersten Lebenstage verbringen mussten, sagt die Stiftung Kindergesundheit. Damals waren neonatologische Stationen eine künstliche Welt, in der es kaum Unterschiede zwischen Tag und Nacht gab. Rund um die Uhr Licht, lautes Zischen und Piepsen von Überwachungsgeräten, ständige Unruhe und sich ständig wiederholende Untersuchungsmaßnahmen. Die Besuchszeiten von Eltern waren streng limitiert und der Kontakt zu ihrem Kind durch rigide Hygienemaßnahmen stark eingeschränkt.
Geborgenheit durch Hautkontakt
Heute praktizieren die meisten neonatologischen Abteilungen das sogenannte „Känguruhn“: Bei der Känguru-Methode können die Eltern eine besonders intensive Bindung zu ihrem Frühgeborenen aufbauen. Das nur mit einer Windel bekleidete Frühgeborene wird für einige Stunden auf die nackte Brust von Mutter oder Vater gelegt. Es kann ihren Herzschlag und Atemgeräusch wie im Bauch hören, die Haut riechen und die Stimme hören. Das vermittelt dem Kind die Nähe und Geborgenheit, die es so dringend benötigt.
Die Probleme von Frühgeborenen enden nicht mit der Entlassung aus einer Kinderklinik. Deshalb sollten die Frühchen in neonatologischen Nachsorgeambulanzen betreut werden, damit sie ihre Fähigkeiten optimal entfalten können, empfiehlt die Stiftung Kindergesundheit. Ihre Eltern brauchen Unterstützung und eine spezielle, oft sehr zeitaufwändige Beratung für den täglichen Umgang mit dem zerbrechlich kleinen Kind. Sie müssen unterwiesen werden, wie sie ihr Baby pflegen und seine Fähigkeiten fördern können, damit es stabil sein Leben meistert.
Wenn Frühchen keine Hilfe finden
„Die Behandlung von Frühgeborenen stellt eine besondere therapeutische Herausforderung dar“, sagt Professor Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit: „Die Sicherstellung einer guten Versorgungsqualität ist dabei von großer Bedeutung. Derzeit stehen viele Kinderkliniken jedoch vor großen Schwierigkeiten, weil das nicht für Kinder ausgelegte deutsche Fallpauschalensystem die wirklich entstehenden Kosten nicht deckt und dadurch eine sachgerechte Versorgung gefährdet. Ein großes Problem ist fehlendes Personal, ganz besonders in der Pflege. Dadurch werden die beeindruckenden Erfolge auch der Neonatologie in Frage gestellt“.
Während die Geburtenzahl in Deutschland steigt, müssen Kinderkliniken deshalb an vielen Orten Betten für die Belegung reduzieren, auch im Bereich der Intensivmedizin für Neu- und Frühgeborene. Eltern werden immer häufiger damit konfrontiert, dass ihre Kinder nicht in der nächsten Klinik versorgt werden können. Professor Berthold Koletzko: „Viel zu häufig müssen Neugeborene und Kinder, die akut eine Krankenhausbehandlung brauchen, abgewiesen und in teilweise weit entfernt liegende Krankenhäuser transportiert werden. Gerade bei Neu- und Frühgeborenen und bei akut erkrankten Kindern führt dies zu deutlichen erhöhten Risiken. Deshalb müssen wir gemeinsam mit den politischen Entscheidungsträgern und den Krankenkassen alles dafür tun, dass sich die Versorgungsqualität in Deutschland möglichst rasch wieder verbessert“.
Foto: Intubiertes Frühgeborenes nach Geburt in der 26. Schwangerschaftswoche / Bildrechte: ceejayoz, flickr.com, CC BY 2.0