Komplex: Empathie und Perspektivübernahme

Plastik in Bukarest, Rumänien: Zwei gute Freunde. Foto: Britchi Mirela, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Komplex: Empathie und Perspektivübernahme

Empathie und die Perspektive des anderen einnehmen können – zwei Fähig­keiten, durch die wir verstehen, was im Kopf des anderen vor sich geht. Obwohl beide Begriffe ständig im Umlauf sind, ist noch immer unklar, was sie genau beschreiben. Wissen­schaftler des Max-Planck-Instituts für Kogni­tions- und Neuro­wis­sen­schaften (MPI CBS) in Leipzig haben nun gemeinsam mit Kollegen der Oxford-University viele der bishe­rigen Studien ausge­wertet und ein Erklä­rungs­modell entwi­ckelt, das zeigt: Es ist nicht eine konkrete Kompetenz, die uns dazu befähigt, uns in eine andere Person hinein­zu­ver­setzen. Beide Fähig­keiten setzen sich aus vielen Einzel­fak­toren zusammen, die sich je nach Situation unterscheiden.

Zu verstehen, was andere Menschen wollen, wie sie sich fühlen und wie sie die Welt sehen, wird in unserer komplexen, globa­li­sierten Gesell­schaft immer wichtiger. Soziale Kompe­tenzen ermög­lichen es uns, Freunde zu gewinnen und ein Netzwerk von Menschen zu schaffen, die uns unter­stützen. Doch nicht jedem fällt der Umgang mit anderen Menschen leicht. Ein wesent­licher Grund: Die beiden wichtigsten sozialen Kompe­tenzen Empathie, also sich in die Emotionen des anderen hinein­fühlen zu können, sowie die Fähigkeit zur Perspek­tiv­über­nahme, also die Pläne und Absichten eines anderen nachvoll­ziehen zu können, sind unter­schiedlich stark ausgeprägt.

Forscher versuchen daher seit langem heraus­zu­finden, was einem dabei hilft, andere zu verstehen. Je mehr man darüber weiß, so die Idee, desto besser kann man Menschen helfen, soziale Bezie­hungen einzu­gehen. Bislang war es jedoch sehr schwierig genau zu wissen, was das eigentlich ist, Empathie und Perspek­tiv­über­nahme. Die Emotionen einer Person an ihren Augen ablesen, eine lustige Geschichte verstehen oder die Handlungen einer anderen Person nachvoll­ziehen zu können – im Alltag ergeben sich ständig andere soziale Heraus­for­de­rungen, die alle diese beiden großen Gesamt­kom­pe­tenzen erfordern. Im Detail benötigen sie aber jeweils eine Kombi­nation verschie­dener einzelner unter­ge­ord­neter Fertig­keiten. Ist es für die eine Situation notwendig, Blicke und Mimik zu inter­pre­tieren, ist es in der anderen eher von Nöten, den kultu­rellen Hinter­grund des Erzählers mitzu­denken oder seine aktuellen Bedürf­nisse zu kennen.

Bis heute entstanden daher unzählige Studien, die zwar Empathie und Perspek­tiv­über­nahme jeweils als Ganzes unter­suchten. Bislang ungeklärt blieb jedoch, was beide Kompe­tenzen trotz jeweils verschie­dener Anfor­de­rungen im Kern ausmacht und wo im Gehirn ihre Basis liegt. Kanske und ein Team inter­na­tio­naler Wissen­schaftler haben nun Abhilfe geschaffen und ein umfas­sendes Erklä­rungs­modell entwickelt.

»Das Gehirn besitzt zwei allge­meine Fähig­keiten für das Manövrieren in der sozialen Welt. Die Empathie ist gefühls­ba­siert und hilft uns, an den Emotionen des anderen teilzu­nehmen. Die zweite, die Fähigkeit zum Perspek­tiv­wechsel, ist ein komplexer Denkprozess, der dazu dient, sich die Umstände des anderen vorzu­stellen und darüber nachzu­denken, was diese Person denken könnte«, erklärt Philipp Kanske, früher Forschungs­grup­pen­leiter am MPI CBS und heute dort Research Associate sowie Professor an der TU Dresden. Gemeinsam mit Matthias Schurz vom Donders Institut in Nijmegen, Nieder­lande, leitete er die Studie, die aktuell im Fachma­gazin »Psycho­lo­gical Bulletin« erschienen ist. »Diese beiden abstrakten Fähig­keiten zum Eindenken und Einfühlen in Andere setzen sich wiederum aus verschie­denen Bausteinen zusammen.«

»Beide Gesamt­kom­pe­tenzen werden jeweils von einem auf Empathie oder Perspek­tiv­wechsel spezia­li­sierten ‚Haupt­netzwerk‘ im Gehirn verar­beitet, die in jeder sozialen Situation aktiviert werden, ziehen aber je nach Situation zusätz­liche Netzwerke hinzu«, so Kanske weiter. Lesen wir die Gedanken und Gefühle anderer beispiels­weise von deren Augen ab, sind andere Zusatz­re­gionen beteiligt als wenn wir sie aus deren Handlungen oder aus einer Erzählung erschließen müssen. »Das Gehirn kann so sehr flexibel auf die einzelnen Anfor­de­rungen reagieren.«

Für Empathie arbeitet ein Haupt­netzwerk, das akut bedeutsame Situa­tionen erkennen kann, indem es etwa Angst verar­beitet, mit spezia­li­sierten zusätz­lichen Regionen, beispiels­weise für Gesichts- oder Sprach­er­kennung zusammen. Beim Wechseln der Perspektive sind als Kernnetzwerk die Regionen aktiv, die auch beim Erinnern an Vergan­genes oder dem Fanta­sieren über Zukünf­tiges zum Einsatz kommen, also bei Gedanken, die sich mit aktuell nicht beobacht­baren Dingen befassen. Auch hier schalten sich in den konkreten Situa­tionen jeweils zusätz­liche Hirnre­gionen hinzu.

Komplexe soziale Probleme erfordern Zusam­men­spiel beider Fähigkeiten

Durch ihre Auswer­tungen haben die Forscher außerdem heraus­ge­funden: Gerade die besonders komplexen sozialen Probleme erfordern eine Kombi­nation aus Empathie und Perspek­tiv­wechsel. Personen, die besonders sozial kompetent sind, scheinen demnach andere auf beide Arten zu betrachten, also auf der Grundlage von Gefühlen und auf der von Gedanken. In ihrem Urteils­ver­mögen finden sie dann die richtige Balance aus beidem.

»Unsere Analyse zeigt aber auch, dass Mangel an einer der beiden Sozial­kom­pe­tenzen auch bedeuten kann, dass nicht die Kompetenz als Ganzes begrenzt ist. Womöglich ist nur ein bestimmter Teilfaktor betroffen, etwa das Verständnis von Mimik oder Sprach­me­lodie«, ergänzt Kanske. Ein einzelner Test reiche daher nicht aus, um einer Person mangelnde soziale Fähig­keiten zu beschei­nigen. Vielmehr müsse es eine ganze Reihe an Testver­fahren geben, um sie tatsächlich als wenig empathisch einzu­schätzen – oder als unfähig, die Sicht­weise des anderen einnehmen zu können.

Unter­sucht haben die Wissen­schaftler diese Zusam­men­hänge durch eine großan­ge­legte Meta-Analyse. Darin identi­fi­zierten sie zum einen, welche Gemein­sam­keiten sich bei den 188 unter­suchten Einzel­studien im MRT-Muster zeigten, wenn sich die Teilnehmer ihrer Empathie oder Perspek­tiv­über­nahme bedienten – um so für jede der beiden sozialen Kompe­tenzen die Kernre­gionen im Gehirn zu lokali­sieren. Sie kennzeich­neten aber auch, worin sich die MRT-Muster je nach konkreter Aufgabe unter­schieden und welche demzu­folge jeweils zusätzlich heran­ge­zogene Hirnre­gionen sind.

Origi­nal­pu­bli­kation:

Schurz, M., Radua, J., Tholen, M. G., Maliske, L., Margulies, D. S., Mars, R. B., Kanske, P. (2020).

Toward a Hierar­chical Model of Social Cognition: A Neuro­imaging Meta-Analysis and Integrative Review of Empathy and Theory of Mind

Psycho­lo­gical Bulletin. Advance online publi­cation. http://dx.doi.org/10.1037/bul00003

Textquelle: Verena Müller, Max-Planck-Institut für Kogni­tions- und Neurowissenschaften

Bildquelle: Plastik in Bukarest, Rumänien: Zwei gute Freunde. Foto: Britchi Mirela, Lizenz: CC BY-SA 4.0