Abstand und Masken sind nicht genug

Bisher stützte man sich auf jahrzehn­tealte Modelle, nun hat ein Fluid­dy­namik-Team die Ausbreitung winziger Tröpfchen neu analy­siert: Masken und Abstand sind gut, aber nicht genug. Größere Tröpfchen gelangen rasch zu Boden, kleinere bleiben lange in der Luft. Grafik: TU Wien

Abstand und Masken sind nicht genug

Maske tragen, Abstand halten, Menschen­massen meiden – das sind die gängigen Empfeh­lungen um die COVID-19-Epidemie einzu­dämmen. Aller­dings sind die wissen­schaft­lichen Grund­lagen, auf denen diese Empfeh­lungen basieren, Jahrzehnte alt und entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand des Wissens. Um das zu ändern, haben sich nun mehrere Forschungs­gruppen aus dem Bereich der Fluid­dy­namik zusam­men­ge­schlossen und ein neues, verbes­sertes Modell der Ausbreitung infek­tiöser Tröpfchen entwi­ckelt. Dabei zeigt sich: Masken zu tragen und Abstände einzu­halten ist sinnvoll, man sollte sich dadurch aber nicht in falscher Sicherheit wiegen. Auch mit Maske können infek­tiöse Tröpfchen über mehrere Meter übertragen werden und länger in der Luft verweilen als bisher gedacht.
Veraltete Daten, neu betrachtet

»Das bisher weltweit akzep­tierte Bild der Ausbreitung von Tröpfchen stützt sich auf Messungen aus den 1930er und 1940er Jahren«, sagt Prof. Alfredo Soldati vom Institut für Strömungs­me­chanik und Wärme­über­tragung der TU Wien. »Damals waren die Messme­thoden noch nicht so gut wie heute, wir vermuten, dass man besonders kleine Tröpfchen damals noch gar nicht zuver­lässig messen konnte.«

In bishe­rigen Modellen wurde streng zwischen großen und kleinen Tröpfchen unter­schieden: Die großen werden von der Schwer­kraft nach unten gezogen, die kleinen bewegen sich zwar fast gerad­linig vorwärts, verdunsten aber sehr schnell. »Dieses Bild ist etwas zu einfach«, sagt Alfredo Soldati. »Es war daher höchste Zeit, die Modelle an den neuesten Stand der Forschung anzupassen, um die Ausbreitung von COVID-19 besser zu verstehen.«

Aus strömungs­me­cha­ni­scher Sicht ist die Situation kompli­ziert – schließlich hat man es mit einer sogenannten Mehrpha­sen­strömung zu tun: Die Partikel selbst sind flüssig, sie bewegen sich aber in einem Gas. Genau solche Mehrpha­sen­phä­nomene sind Soldatis Spezi­al­gebiet: »Kleine Tröpfchen hat man bisher als harmlos betrachtet, doch das ist eindeutig falsch«, erklärt Soldati. »Auch wenn das Wasser­tröpfchen verdunstet ist, bleibt ein Aerosol-Partikel zurück, der das Virus enthalten kann. So können sich Viren über Distanzen von mehreren Metern ausbreiten und lange Zeit in der Luft bleiben.«

Ein Partikel mit einem Durch­messer von 10 Mikro­metern (die durch­schnitt­liche Größe der ausge­wor­fenen Speichel­tropfen) braucht in typischen Alltags­si­tua­tionen fast 15 Minuten, bis es zu Boden gefallen ist. Man kann also auch dann in Kontakt mit Viren kommen, wenn man Abstands­regeln einhält – etwa in einem Lift, der kurz vorher von infizierten Personen benutzt wurde. Besonders proble­ma­tisch sind Umgebungen mit hoher relativer Luftfeuch­tigkeit, etwa schlecht gelüftete Bespre­chungs­räume. Im Winter ist besondere Vorsicht geboten, weil dann die relative Luftfeuch­tigkeit höher ist als im Sommer.

Schutz­regeln: Sinnvoll, aber nicht genug

»Masken sind nützlich, weil sie große Tröpfchen aufhalten. Und Abstand halten ist ebenso sinnvoll. Doch unsere Ergeb­nisse zeigen, dass beides keinen garan­tierten Schutz bieten kann«, betont Soldati. Mit dem mathe­ma­ti­schen Modell, das nun präsen­tiert wurde, und mit den laufenden Simula­tionen am VSC, kann man die Konzen­tration Virus tragender Tröpfchen in unter­schied­lichen Distanzen zu unter­schied­lichen Zeiten berechnen. »Bei politi­schen Entschei­dungen über Corona-Schutz­maß­nahmen hat man bisher haupt­sächlich Studien aus dem Bereich der Virologie und Epide­mio­logie heran­ge­zogen. Wir hoffen, dass in Zukunft auch die Erkennt­nisse aus der Fluid­me­chanik mitein­be­zogen werden«, sagt Alfredo Soldati.

Origi­nal­pu­bli­kation:

S. Balach­andar et al., Host-to-host airborne trans­mission as a multi­phase flow problem for science-based social distance guide­lines, Inter­na­tional Journal of Multi­phase Flow, 132, 103439 (2020).

https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0301932220305498

Textquelle: Dr. Florian Aigner, Technische Univer­sität Wien

Grafik­quelle: Bisher stützte man sich auf jahrzehn­tealte Modelle, nun hat ein Fluid­dy­namik-Team die Ausbreitung winziger Tröpfchen neu analy­siert: Masken und Abstand sind gut, aber nicht genug. Größere Tröpfchen gelangen rasch zu Boden, kleinere bleiben lange in der Luft. Grafik: TU Wien