Eine neue Studie weist auf einen Mechanismus hin, der der Autoimmunität beim Menschen zugrunde liegt und ein potenzielles Ziel für die Entwicklung von Therapien sowohl für Autoimmunerkrankungen als auch für Krebs darstellt. Foto: MedUni Wien
Wenn Immunzellen nicht bei Sinnen sind
Eine der wichtigsten und beeindruckendsten Eigenschaften des menschlichen Immunsystems ist seine Fähigkeit, zuverlässig zwischen Selbst und Nicht-Selbst zu unterscheiden. Eindringende Krankheitserreger und infizierte oder bösartige Zellen müssen eliminiert werden, während gesunde Zellen geschützt werden müssen. Bis heute sind viele Aspekte dieser fein abgestimmten Regulation ungeklärt. Eine neue Studie hat nun einen grundlegenden und bisher unbekannten Regulator dieses Prozesses entdeckt. Eine vererbte Mutation, die sich auf den WAVE-Regulationskomplex auswirkt, hat gezeigt, dass das Molekül HEM1 – ein Protein, das für die dynamische Architektur des so genannten Aktin-Zytoskeletts verantwortlich ist – für die richtige Erkennung von Immunzellen entscheidend ist und bei Patienten mit HEM1-Defizienz zu schwerer Autoimmunität führt.
Diese Entdeckung weist auf einen neuen Mechanismus hin, der der Autoimmunität beim Menschen zugrunde liegt, und stellt ein potenzielles Ziel für die Entwicklung von Therapien sowohl für Autoimmunerkrankungen als auch für Krebs dar. Die Studie von Elisabeth Salzer, Samaneh Zoghi et al. »The cytoskeletal regulator HEM1 governs B cell development and prevents autoimmunity« wurde von Science Immunology am 8. Juli 2020 publiziert.
Unter der Leitung von Kaan Boztug, Leiter des LBI for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) und Wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung (CCRI), identifizierten WissenschaftlerInnen des LBI-RUD, des CeMM Forschungszentrums für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen Universität Wien und des St. Anna Kinderspitals gemeinsam mit KooperationspartnerInnen aus Teheran, Braunschweig und vom Institute of Science and Technology (IST) Austria diesen neuartigen Krankheitsmechanismus.
Ausgangspunkt der Studie waren zwei Schwestern, die sich den KlinikerInnen von früher Kindheit an mit rezidivierendem Fieber, Infektionen und schwerer Autoimmunität präsentierten – im Wesentlichen eine Krankheit unbekannten Ursprungs. »Mit Hilfe von Exom-Sequenzierung identifizierten wir eine bisher beim Menschen noch nie beschriebene homozygote Mutation im HEM1-Gen, die mit einem Funktionsverlust des dort kodierten Proteins einhergeht. Unser Ziel war daher zu verstehen, wie der Verlust von HEM1 die Erkrankung verursachen kann«, erklärt Samaneh Zoghi, Co-Erstautorin der Studie. »Bis jetzt war die genaue Funktion von HEM1 bei der Entwicklung von Immunzellen unbekannt. Wir setzten moderne Technologien ein, darunter die so genannte Single Cell-RNA-Sequenzierung, um zu verstehen, wie der Verlust von HEM1 die Entwicklung von BLymphozyten – und damit die Autoimmunität – schwerwiegend stört«, fügt Elisabeth Salzer, Co-Erstautorin der Studie, hinzu.
Die Medizinische Universität Wien ist eine der traditionsreichsten medizinischen Ausbildungs-und Forschungsstätten Europas. Mit rund 8.000 Studierenden ist sie heute die größte medizinische Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Mit 5.500 MitarbeiterInnen, 27 Universitätskliniken und drei klinischen Instituten, 12 medizintheoretischen Zentren und zahlreichen hochspezialisierten Laboratorien zählt sie auch zu den bedeutendsten Spitzenforschungsinstitutionen Europas im biomedizinischen Bereich. Foto: MedUni Wien
Die ForscherInnen fanden heraus, dass das Fehlen des funktionellen HEM1-Proteins den WAVE-Regulationskomplex destabilisiert und damit während ihrer Entwicklung das Zellschicksal in Richtung Überleben autoreaktiver B‑Lymphozyten verschiebt. Diese Entdeckung ist ein großer Schritt vorwärts im Verständnis, wie es zum Verlust des Gleichgewichts im Immunsystem und der Autoimmunität kommen kann. »Normalerweise produzieren Immunzellen laufend mehrere flexible Zellausläufer, um die Umgebung abzutasten. Dieser Prozess ist vom Aktin-Zytoskelett abhängig. Hier konnten wir zeigen, wie die abnorme Zellform die Signalintensität der B‑Zellen so beeinflusst, dass die normale Funktion des Immunsystems aufgehoben wird und eine Reaktion gegen den eigenen Körper erfolgt, was schwere Krankheiten verursachen kann. Dies ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie uns solche ›Experimente der Natur‹ grundlegende biologische Prinzipien beibringen können«, erklärt Seniorautor Kaan Boztug.
Die Diagnose und Behandlung von angeborenen Defekten des Immunsystems bleibt bis heute eine Herausforderung. Durch die Untersuchung eines bisher unbekannten angeborenen Immundefekts deckten die ForscherInnen HEM1 als einen Schlüsselregulator der Signalstärke der B‑Lymphozyten auf, der für die Zellentwicklung und ‑homöostase entscheidend ist. Angesichts des engen Zusammenspiels zwischen normaler Immunsystemfunktion, Immundysregulation und Krebs-Prädisposition werden die ForscherInnen nun HEM1 und verwandte Proteine als potenzielle Angriffspunkte sowohl gegen Autoimmunität als auch Krebs weiter erforschen.
Publikation: «The cytoskeletal regulator HEM1 governs B cell development and prevents autoimmunity« von Elisabeth Salzer*, Samaneh Zoghi*, Máté G. Kiss†, Frieda Kage†, Christina Rashkova†, Stephanie Stahnke†, Matthias Haimel†, René Platzer, Michael Caldera, Rico Chandra Ardy, Birgit Hoeger, Jana Block, David Medgyesi, Celine Sin, Sepideh Shahkarami, Renate Kain, Vahid Ziaee, Peter Hammerl, Christoph Bock, Jörg Menche, Loïc Dupré, Johannes B. Huppa, Michael Sixt, Alexis Lomakin, Klemens Rottner, Christoph J. Binder, Theresia E. B. Stradal, Nima Rezaei, and Kaan Boztug§; published in »Science. Immunology 5, eabc3979 (2020), 10 July 2020. doi:. (*These authors contributed equally to this work, †these authors contributed equally to this work, §Corresponding author) – https://immunology.sciencemag.org/content/5/49/eabc3979
Textquelle: Barbara Konturek, Ludwig Boltzmann Gesellschaft
Bildquelle: (oben) Eine neue Studie weist auf einen Mechanismus hin, der der Autoimmunität beim Menschen zugrunde liegt und ein potenzielles Ziel für die Entwicklung von Therapien sowohl für Autoimmunerkrankungen als auch für Krebs darstellt. Foto: MedUni Wien
Bildquelle: (unten) Die Medizinische Universität Wien ist eine der traditionsreichsten medizinischen Ausbildungs-und Forschungsstätten Europas. Mit rund 8.000 Studierenden ist sie heute die größte medizinische Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Mit 5.500 MitarbeiterInnen, 27 Universitätskliniken und drei klinischen Instituten, 12 medizintheoretischen Zentren und zahlreichen hochspezialisierten Laboratorien zählt sie auch zu den bedeutendsten Spitzenforschungsinstitutionen Europas im biomedizinischen Bereich. Foto: MedUni Wien