Aufnahme von Stammzellen, die sich zufällig im Brustdrüsengewebe bewegen. Foto: Colinda Scheele / Institut Oncode
Stammzellen: Verlierer werden aus Nische verdrängt
Ohne Stammzellen würde menschliches Leben nicht existieren. Dank ihnen wird ein Zellklumpen zu einem Organ, und eine befruchtete Eizelle entwickelt sich zu einem Baby.. Aber was macht eigentlich eine Stammzelle aus? Handelt es sich um eine feste Population von besonders begabten Zellen? Wissenschafter des Institute of Science and Technology (IST) Austria entdeckten, dass Stammzellen stattdessen aufgrund des kollektiven Verhaltens von Zellen innerhalb der Organe entstehen könnten. Sie veröffentlichten ihre Studie in der Zeitschrift PNAS. Ihre Ergebnisse könnten zu einem tieferen Verständnis der Organerneuerung und ‑entwicklung führen.
Stammzellen sind für die Entwicklung und Erneuerung von Organen von zentraler Bedeutung. In den meisten Organen befinden sich Stammzellen in bestimmten Regionen und können in einigen Fällen durch mehrere spezifischen Eigenschaften, wie molekulare Marker, identifiziert werden. Sie können sich in verschiedene Zelltypen entwickeln und sich unbegrenzt teilen, um neue Stammzellen zu produzieren. Bedeutet dies jedoch, dass die Stammzelle in dieser Kette unsterblich ist? Oder kann jede Zelle sie stürzen und ihre Rolle einnehmen?
Die wissenschaftliche Gemeinschaft befindet sich in einer offenen Debatte darüber, ob Stammzellen tatsächlich aus inneren Zelleigenschaften oder aus der kollektiven Dynamik des Gewebes entstehen. In diesem zweiten Szenario stehen potenzielle Stammzellen in ständiger Konkurrenz, um bestimmten »Nischen«-Regionen. Jede Zelle will ihren Nachbarn durch Replikation übertreffen und drängt sie deshalb ständig weiter aus diesen Gebieten. Die funktionelle Stammzelle ist dann die Zelle, die diesen Wettbewerb gewinnt. Die Verlierer werden aus der Nische verdrängt, entwickeln sich in andere Zelltypen und sterben schließlich.
In ihrer Studie untersuchte die Hannezo-Gruppe am IST Austria in Zusammenarbeit mit Forschern des Nationalen Krebsinstituts der Niederlande und der Universität Cambridge den Mechanismus zur Überwindung solcher aus der Nische drängenden Kräfte. Sie verwendeten ein Mikroskop, um Stammzellbewegungen im Brust‑, Darm- und Nierengewebe aufzuzeichnen. Das Team beobachtete, zusätzlich zu den konstanten Schubkräften, viele zufällige Bewegungen der Zellen. Warum sollten diese wichtig sein? »Ein berühmtes Sprichwort im Immobiliengeschäft lautet: ›Lage, Lage, Lage‹. Im Fall von Stammzellen überträgt sich dieses Sprichwort auf einen Ort, der die Stammzellen-artigkeit einer Zelle bestimmt (und nicht umgekehrt). Zufällige Bewegungen sind dann der Schlüssel, da sie es einem ermöglichen, an den richtigen Ort zu gelangen, auch wenn man am falschen begonnen hat«, fasst Edouard Hannezo zusammen.
Unter diesem Rahmen sehen die Gewebe wie der Ausgang der U‑Bahn-Station in der Hauptverkehrszeit aus. Einige Leute sind in der Lage, sich zufällig gegen die Bewegung der Masse durchzudrücken und wieder die U‑Bahn zu nehmen. Unter dieser Metapher sind zufällige Bewegungen der Schlüssel, damit Zellen, die sich von der Stammzellnische entfernen, schließlich wieder in diese Nische zurückkehren können.
»Wir wollten wissen, was die Anzahl und die Dynamik der Stammzellen definiert und inwieweit dies durch eine mathematische Untersuchung der Bewegungen der Zellen und der Geometrie der Organe beantwortet werden kann«, sagt Bernat Corominas-Murtra. Die Wissenschaftler haben dann diese zufällige Zelldynamik mathematisch in der Geometrie der Organe abgebildet und konnten unter anderem die Anzahl der funktionellen Stammzellen vorhersagen (diejenigen, im System rechtzeitig an den richtigen Ort gelangen können). Sie stellten fest, dass sich während der Gewebeerneuerung oder des Wachstums Stammzellregionen auf natürliche Weise entwickelten, ohne dass Annahmen über die molekulare Natur der Zellen getroffen werden mussten. Daher zeigten die Wissenschaftler, dass allein die Dynamik und Geometrie eine wesentliche Rolle spielen.
Bernat Corominas-Murtra beschreibt seine Ergebnisse: »Man würde erwarten, dass die Zufälligkeit der Zellbewegungen die Merkmale des Systems verwischt oder es instabiler macht. Stattdessen ist der Zufall ein Schlüssel für die Entstehung robuster, komplexer Strukturen wie der Stammzellregion. Bemerkenswerterweise stimmt diese Region mit derjenigen überein, die zuvor anhand biomolekularer Marker einzelner Zellen identifiziert wurde.«
Die Ergebnisse der Wissenschaft tragen zur offenen Debatte über die Natur von Stammzellen in Geweben bei und eröffnen möglicherweise eine neue Dimension im Verständnis der Organerneuerung.
Originalpublikation: Bernat Corominas-Murtra, Colinda L.G.J. Scheele, Kasumi Kishi, Saskia I.J.Ellenbroek, Benjamin D. Simons, Jacco van Rheenen, Edouard Hannezo. 2020. Stem cell lineage survival as a noisy competition for niche access. PNAS. DOI: www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1921205117
Textquelle: Patrick Müller, Institute of Science and Technology Austria
Bildquelle: Aufnahme von Stammzellen, die sich zufällig im Brustdrüsengewebe bewegen. Foto: Colinda Scheele / Institut Oncode