DIW: Menschen sind einsam, aber resilient

DIW: Menschen sind einsam, aber resilient

Die Eindäm­mungs­maß­nahmen im Zuge der Corona-Ausbreitung haben das Leben vieler Menschen in Deutschland grund­legend geändert. Welche Konse­quenzen dies neben ökono­mi­schen Folgen auch für die psychische Gesundheit der Bevöl­kerung hat, darüber wurde in den vergan­genen Wochen viel speku­liert. Die ökono­mische Unsicherheit, die Mehrbe­lastung durch Homeoffice oder Kinder­be­treuung und die fehlenden sozialen Kontakte – all dies könnte zu einem wesent­lichen Anstieg der psychi­schen Belastung in der deutschen Bevöl­kerung führen. Aktuelle Ergeb­nisse der SOEP-CoV-Studie zeigen nun, dass die Menschen hierzu­lande den ersten Monat des Lockdowns besser verkraftet haben als erwartet. Zwar steigt die subjektive Einsamkeit im Vergleich zu den Vorjahren erheblich an, andere Indika­toren für psychische Belas­tungen (Lebens­zu­frie­denheit, emotio­nales Wohlbe­finden und Depres­sions- und Angst­sym­pto­matik) sind jedoch bisher unver­ändert. Dies deutet auf eine starke Resilienz der Bevöl­kerung hin. Einigen Bevöl­ke­rungs­gruppen sollte dennoch besondere Aufmerk­samkeit zuteil werden.

Der April 2020 war der erste volle Monat, in dem in Deutschland die Eindäm­mungs­maß­nahmen im Zuge der Corona-Krise galten. Aus ersten Daten der SOEP-CoV-Studie[1] auf Basis der Langzeit­be­fragung Sozio-oekono­mi­sches Panel (SOEP)[2] lassen sich nun erste Ergeb­nisse ablesen, wie der Lockdown das Niveau der selbst­be­rich­teten psychi­schen Gesundheit und des Wohlbe­findens der in Deutschland lebenden Menschen im Vergleich zum Niveau der Vorjahre beein­flusst hat.

Auffäl­liger Anstieg der Einsamkeit

Die Einschrän­kungen des öffent­lichen Lebens sowie die Kontakt­be­schrän­kungen, die im April 2020 galten, haben der Umfrage zufolge zu einem auffäl­ligen Anstieg der subjek­tiven Einsamkeit der Menschen in Deutschland geführt[3]. Dabei beschreibt der Begriff „Einsamkeit“ die Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlich vorhan­denen sozialen Bezie­hungen. Chronische Einsamkeit ist gefährlich, da sie Ursache vieler weiterer psychi­scher (wie Depres­sionen und Angst­stö­rungen) und physi­scher Erkran­kungen (wie Diabetes, Überge­wicht, Herz- und Kreis­lauf­erkran­kungen) sein kann.

Während die in Deutschland lebenden Menschen im Jahr 2017 im Mittel relativ wenig einsam waren (Durch­schnittswert = 3,0 im Werte­be­reich von 0 bis 12, niedrige Werte geben niedrige Einsam­keits­ge­fühle an), zeigt sich während der Corona-Krise ein deutlicher Anstieg der Einsamkeit (Durch­schnittswert = 5,4). Bei diesem Anstieg handelt es sich um einen Anstieg um fast eine Standard­ab­wei­chung – was in etwa bedeutet, dass eine Person, die im April 2020 durch­schnittlich einsam ist, vor Corona im Jahr 2017 zu den 15 Prozent der einsamsten Menschen in Deutschland gezählt hätte.

Frauen und junge Menschen besonders betroffen

Eine Analyse der Verteilung der Einsamkeit über unter­schied­liche Bevöl­ke­rungs­gruppen zeigt, dass fast alle Gruppen einen vergleichbar starken Anstieg der Einsamkeit angeben. Zwei Gruppen sind jedoch besonders betroffen: Frauen und junge Menschen.

Zwar sind sowohl Frauen als auch Männer während des Lockdowns im April 2020 einsamer als in den Vorjahren, bei Frauen nimmt die Einsamkeit jedoch deutlich stärker zu als bei Männern. Betrachtet man die unter­schied­lichen Alters­gruppen, zeigt sich: Fast alle sind während des Lockdowns einsamer als in den Vorjahren. Aber besonders einsam sind die jüngsten, also die Menschen unter 30 Jahren (Abbil­dungen 1a und 1b).

Abbil­dungen 1a und 1b: Einsamkeit bei Männern und Frauen und nach Altersgruppen
Lebens­zu­frie­denheit, emotio­nales Wohlbe­finden und Depres­sions- und Angst­sym­ptome weitest­gehend unverändert

Inter­es­san­ter­weise zeigt sich, dass andere Kennzeichen des Wohlbe­findens und der psychi­schen Gesundheit trotz des starken Anstiegs der Einsamkeit der in Deutschland lebenden Menschen bisher unver­ändert sind. Das gilt beispiels­weise für die Lebens­zu­frie­denheit, das emotionale Wohlbe­finden sowie die Depres­sions- und Angst­sym­ptome in der Bevölkerung.

So zeigten die Befragten im April 2020 im Durch­schnitt eine allge­meine Lebens­zu­frie­denheit von 7,4 auf einer Skala von 0 bis 10. Dieser Wert ist unver­ändert zum Wert des Vorjahrs von 7,4. Insgesamt waren die durch­schnitt­lichen Angaben in den letzten fünf Jahren sehr stabil und variierten zwischen 7,3 in 2015 und 7,4 in 2019.

Ähnlich verhält es sich mit dem emotio­nalen Wohlbe­finden. Auch hier ist der Wert im April 2020 (14,7, Werte­be­reich von 4 bis 20) identisch zu dem Wert, den die Befragten im Vorjahr berichtet haben (14,7). Insgesamt waren die durch­schnitt­lichen Angaben auch für das emotionale Wohlbe­finden in den letzten fünf Jahren sehr stabil und variierten zwischen 14,5 in 2016 und 14,7 in 2019.

Gestiegen ist jedoch die durch­schnitt­liche Depres­sions- und Angst­sym­pto­matik. Sie lag im April 2020 bei 2,4 (Werte­be­reich 0 bis 12) und ist damit deutlich höher als noch 2019, als der Wert bei 1,9 lag. Aller­dings ist das aktuelle Niveau nicht außer­ge­wöhnlich hoch, sondern mit der Depres­sions- und Angst­sym­pto­matik im Jahre 2016 vergleichbar. Damals lag der Wert mit 2,3 nur knapp unter dem Wert, der im April 2020 gemessen wurde.

Abbildung 2: Lebens­zu­frie­denheit und Einkommen

Im Gegensatz zu der nahezu stabilen Lebens­zu­frie­denheit in der Gesamt­be­völ­kerung lässt sich beim Blick auf Einkommensgruppen[4] eine inter­es­sante Verän­derung im Vergleich zu der Zeit vor der Krise feststellen. In den vergan­genen Jahren wiesen Personen mit einem niedrigen Einkommen regel­mäßig eine niedrigere Lebens­zu­frie­denheit auf und Menschen mit hohem Einkommen eine höhere. Dieser Unter­schied zwischen den Einkom­mens­gruppen war über die Zeit sehr stabil. Im April 2020 gleichen sich diese Unter­schiede an: Über alle Einkom­mens­gruppen hinweg wird im April 2020 eine ähnliche Lebens­zu­frie­denheit berichtet. Personen aus Haushalten mit niedri­gerem Einkommen haben eine höhere Lebens­zu­frie­denheit, während bei Personen aus Haushalten mit hohem Einkommen die Lebens­zu­frie­denheit leicht sinkt.

Weniger Sorgen um die Gesundheit

Überra­schen­der­weise zeigt sich außerdem, dass sich die in Deutschland lebenden Menschen während des Lockdowns seltener große Sorgen um ihre Gesundheit machen und insgesamt zufrie­dener mit ihrer Gesundheit sind als in den Jahren zuvor. Der Anteil der Personen, der angibt, sich große Sorgen um seine Gesundheit zu machen, ist während des Lockdowns deutlich um neun Prozent­punkte – von 19 Prozent 2019 auf zehn Prozent im April 2020 – gesunken (in den vergan­genen fünf Jahren machten sich stets 16 bis 19 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen große Sorgen um ihre Gesundheit). Die durch­schnitt­liche Zufrie­denheit mit der Gesundheit ist messbar gestiegen, von durch­schnittlich 6,6 auf 7,3 Punkte im April 2020 (die Werte variierten in den vergan­genen fünf Jahren zwischen 6,5 und 6,6 Punkte). Bei diesen Effekten handelt es sich mögli­cher­weise um Kontrast­ef­fekte. Das bedeutet, dass die Menschen ihre eigene Lage nun im Kontext der Pandemie und einer möglichen eigenen Erkrankung besser bewerten und damit relativ gesehen zufrie­dener sind bezie­hungs­weise sich weniger Sorgen um ihre Gesundheit machen.

Abbildung 3: Sorgen um die Gesundheit – Anteil Befragter in Prozent
Fazit: Trotz hoher Resilienz engma­schige Beobachtung der Situation wichtig

Zusam­men­fassend lässt sich sagen, dass sich die Corona-Krise im April 2020 (bis 26.4.2020) nicht so negativ auf das Wohlbe­finden und die psychische Gesundheit der in Deutschland lebenden Menschen ausge­wirkt hat wie bisher angenommen. Die in Deutschland lebenden Menschen zeigen eine beacht­liche Resilienz gegenüber dem Lockdown: Ihre Lebens­zu­frie­denheit und ihr Wohlbe­finden ändern sich kaum. Ob dies auch bei langan­hal­tenden Einschrän­kungen des öffent­lichen Lebens und der Freiheits­rechte weiter so sein wird, kann aktuell noch nicht abgesehen werden. Das SOEP bietet durch seine Panel­struktur aber die Möglichkeit, in den kommenden Jahren zu beobachten, ob diese Effekte nach Ende der Pandemie abklingen und sich wieder auf dem Niveau der Vorjahre einpendeln werden.

Die vorlie­genden Analysen zeigen darüber hinaus, dass die Einsamkeit bereits heute erheblich angestiegen ist. Anhal­tende Einsamkeit ist eine Ursache vieler psychi­scher Erkran­kungen. Es ist also denkbar, dass sich die gestiegene Einsamkeit – sollte sie nicht wieder zurück­gehen – langfristig auf das Wohlergehen und die psychische Gesundheit auswirken wird. Es muss im Verlauf der nächsten Monate beobachtet werden, ob die subjektive Einsamkeit unter der Bevöl­kerung weiter ansteigt und man darauf reagieren muss, oder ob sie nach einer Lockerung der Ausgangs- und Kontakt­be­schrän­kungen wieder sinkt.

Obwohl es also im April 2020 weniger Grund zur Sorge gibt als bisher angenommen, sollten Wohlbe­finden und psychische Gesundheit der in Deutschland lebenden Menschen aufgrund der unklaren zukünf­tigen Entwicklung der Krise und ihrer unsicheren Auswir­kungen auf die soziale und wirtschaft­liche Situation der in Deutschland lebenden Menschen weiter beobachtet werden. Es ist möglich, dass sich die Folgen der Krise für das Wohlbe­finden und die psychische Gesundheit erst verzögert in der Bevöl­kerung zeigen werden. Im April 2020 sind viele Arbeits­plätze durch Kurzarbeit und Hilfs­pakete des Bundes und der Länder gesichert, sodass viele Menschen nicht akut von einem Arbeits­platz­verlust bedroht sind. Sollten zukünftig trotz der verschie­denen Maßnah­men­pakete viele Arbeits­plätze durch die Krise verloren gehen, könnten auch die wirtschaft­lichen Sorgen und Ängste in der Bevöl­kerung steigen – und mit ihnen mögli­cher­weise auch die psychi­schen Belas­tungen, das Wohlbe­finden und die Lebens­zu­frie­denheit. Dass das passieren kann, hat sich zum Beispiel bereits Mitte der 2000er Jahre während der wirtschaft­lichen Rezession gezeigt: Damals ging die Lebens­zu­frie­denheit der in Deutschland lebenden Menschen messbar zurück.

Außerdem gilt es zu beachten, dass offen­sichtlich einzelne Bevöl­ke­rungs­gruppen psychisch stärker auf die Umstände der Krise reagieren, darunter Frauen und jüngere Menschen. Es bedarf weiterer Aufmerk­samkeit, ob dies trotz der Locke­rungen im Mai und der anste­henden Locke­rungen Sommer so bleibt und ob gegebe­nen­falls spezi­fische Hilfs­an­gebote und Unter­stüt­zungen für solche Gruppen angezeigt und möglich sind. Insbe­sondere müssen die Perspek­tiven für junge Menschen in und nach der Krise im Auge behalten werden. Die vorlie­genden Ergeb­nisse zeigen deutlich, dass es sich bei ihnen zwar nicht in Bezug auf die Krankheit Covid-19, sehr wohl aber in Bezug auf die sozialen Folgen der Pandemie um eine Risiko­gruppe handelt.

Fußnoten:

[1] Bei der SOEP-CoV-Studie handelt es sich um eine wissen­schaft­liche Studie, die seit dem 30. März 2020 vom Bundes­mi­nis­terium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Das Projekt SOEP-CoV wird als Verbund­projekt zwischen der Univer­sität Bielefeld und dem SOEP am DIW Berlin vom BMBF im Rahmen des Förder­aufrufs zur Erfor­schung von COVID-19 im Zuge des Ausbruchs von Sars-CoV‑2 gefördert. In ihrem Rahmen werden SOEP Haushalte von April 2020 bis Juni 2020 – zusätzlich zu der regel­mä­ßigen jährlichen Befragung – zu ihrer beruf­lichen und familiären Situation sowie zu ihren Sorgen und ihrer Gesundheit befragt. Ziel der vorlie­genden Studie ist die Beschreibung der psychi­schen Gesundheit während der Corona-Pandemie im April 2020. Um dieses Ziel zu erreichen, werden Daten der ersten beiden Tranchen der SOEP-CoV Studie verwendet. Diese Studie basiert auf telefo­nisch durch­ge­führten Inter­views von SOEP-Befragten während der Corona-Pandemie (1.4.2020 bis 26.4.2020; Tranchen 1 und 2 der Befragung). In den ersten beiden Tranchen der SOEP-CoV Studie wurden zusammen 3 615 Personen telefo­nisch befragt von denen 3 599 in diesem Bericht analy­siert wurden. Nähere Infor­mation zu SOEP-CoV finden sich unter http://www.soep-cov.de

[2] Das SOEP ist eine reprä­sen­tative jährliche Wieder­ho­lungs­be­fragung privater Haushalte, die seit 1984 durch­ge­führt wird (vgl. Goebel et al., 2019). Das SOEP enthält eine Vielzahl an Infor­ma­tionen zu den Befragten – auf Individual- und Haushalts­ebene. Hierzu zählen neben sozio­de­mo­gra­fi­schen Charak­te­ristika (Haushalts­zu­sam­men­setzung, Wohnort, Alter- und Geschlecht der Haushalts­mit­glieder, Einkommen, etc.) Infor­ma­tionen zum Erwerbs­status (Arbeitszeit, Branche, Erwerbs­ein­kommen, Anzahl der Mitar­beiter im Betrieb, etc.) sowie Fragen zu Gesundheit, Sorgen oder Lebenszufriedenheit.

[3] Im Rahmen der SOEP und der SOEP-CoV-Befragung werden die Befragten gebeten, drei Fragen zu ihrer Einsamkeit mithilfe einer fünfstu­figen Antwort­skala (»Nie« = 0 bis »Sehr oft« = 4) zu beant­worten. Die drei Fragen lauten wie folgt: 

  1. Wie oft haben Sie das Gefühl, dass Ihnen die Gesell­schaft anderer fehlt?

  2. Wie oft haben Sie das Gefühl, außen vor zu sein?

  3. Wie oft haben Sie das Gefühl, dass Sie sozial isoliert sind?

[4] Gemeint ist hierbei das bedarfs­ge­wichtete Nettohaushaltseinkommen.

Textquelle: Theresa Entringer, Hannes Kröger, DIW aktuell 46, 6 S.

Grafik­quelle: SOEPv35 und SOEP-CoV, Tranche 1–2. Alle Werte gewichtet mit indivi­du­ellen Hochrech­nungs­fak­toren. Grafik: DIW Berlin

Anmerkung der Redaktion: Der Begriff Resilienz bzw. der Ausdruck resilient sein sind zu viel genutzten Schlag­wörtern geworden. Gemeint ist die Fähigkeit, auf psychi­scher Ebene eine gewisse Wider­stands­fä­higkeit gegenüber Lebens­pro­blemen, Nacken­schlägen, Stress und schick­sal­haftem Geschehen zu entwickeln.